Artist Ausgabe Nr. 113

Portraits

Hiwa K | Axel Hütte | Ralph Schuster | Jan Groover

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Fernando Bryce

Edition

Ralph Schuster

Portrait

Pauls Bouthique, 2015, Buntstift auf MDF, 30 × 50 cm, Privatsammlung

Textauszug

Ralph Schuster
Auch wenn sich Ralph Schuster eher selten der Trompe-l’œil-Manier bedient, bildet seine Lebenswirklichkeit die Basis seiner Arbeit. Sie mündet in eine Unmenge von Zeichnungen, Fotografien und kurzen, nur wenige Sekunden langen Filmsequenzen, die er zu längeren Videoarbeiten aneinander reiht. Dieser selbst generierte Bilderfundus wirkt wie die immer wieder zu knappen Einzelbildern eingefrorenen Momentaufnahmen aus einem kontinuierlichen Bewusstseinsstrom. Nach eigener Aussage hat Ralph Schuster schon seit jeher gezeichnet und kann inzwischen zahllose Skizzenbücher, Mappen und Einzelblätter vorweisen. Meist arbeitet er ganz schlicht mit Bleistift, den er auf eine Weise gebraucht, als ob sich erst während des kreativen Prozesses allmählich zeigt, wohin die Reise geht. Man fühlt sich an Heinrich von Kleists Aufsatz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« erinnert: Einzelne Linien fügen sich wie unabsichtlich zusammen und verwandeln sich durch einen winzigen Akzent in eine comicartige Figur oder verdichten sich mittels übereinander gelegten Schraffuren zu kleinen, komplexen Bildergeschichten.

Dieser tagebuchartige Bilderstrom ist vielfältig ironisch gebrochen, absurd und voller verblüffender Situationskomik. Hinter den hakenschlagenden Assoziationsketten verbirgt sich eine übersprudelnde Erzählfreude und ungemein genaue Beobachtungsgabe. Daraus entwickeln die Dinge ihr Eigenleben, wenn sich zum Beispiel zwei spitzwinklige Dreiecke in ein Blei- und Buntstiftpaar verwandeln oder aus einem mysteriösen Gegenstand durch ein paar zusätzliche Schnörkel en passant eine Wasserrutsche wird. Eine schalenartige Form kann in eine Hand münden, von der die Schale gestützt wird, so dass sie auch als Kopf mit Hut gesehen werden kann. Die bild- und zeichenhaften Einfälle spielen mit metamorphen, fließenden Übergängen und der Mehrdeutigkeit zwischen gegenständlicher und abstrakter Lesart. Der Mensch und sein ins Groteske und Übernatürliche erweiterbarer Aktionsradius bildet die Bezugsgröße.

Eine weitere Bedeutungsebene bieten die Bildtitel. Sie verpassen nicht nur dem jeweiligen Werk einen ironischen, lautmalerischen oder erzählerischen Kontext, sondern stellen ebenso Verbindungen zwischen den einzelnen Arbeiten mit ähnlichen Titeln her. Wie die Ideen aus den kleinformatigen Zeichnungen auf Papier in die Arbeiten auf MDF einfließen, beschreiben auch die Titel eine Bewegung von einer Arbeit zur nächsten oder über- übernächsten. Ralph Schusters Arbeitsweise ist nicht linear. Er hält die Dinge im Fluss der Zeit und einer unendlichen Geschichte. Er will den Bildern ihre Zeit lassen, die sie brauchen, um sich zu entfalten. Sie bauen sich sehr langsam auf, über viele Schichten, und erfordern immer wieder teilweises Abschleifen und Neu beginnen.

Ihr offener Charakter erlaubt, dass sie auch während des Entstehungsprozesses ihre Form ändern können. Ralph Schuster sägt etwas ab oder fügt weitere Teile hinzu, so dass die Ausdehnung der Arbeiten ausgesprochen flexibel bleibt. Ein überzähliges Stück kann zu einem eigenen Werk werden oder den Anfang der neuen Arbeit bilden. Schon die Alten Meister hatten ihre auf Holz gemalten Tafelbilder gelegentlich durch Anstückelung erweitert. Zersägt wurden die Bildtafeln eher von späteren Generationen aus wirtschaftlichen Erwägungen oder um das Format an veränderte Bedingungen anzupassen. Ralph Schuster versteht einen solchen – formal notwendigen – Eingriff nicht als Akt der Zerstörung, sondern als Ausdruck eines transformativen Umgangs mit dem Werk. Ein Teil der Arbeit wandert zur nächsten und kann sich so im Raum und in der Zeit ausbreiten und den roten Faden der Erzählung weiterspinnen.

Sabine Elsa Müller