vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 90
Portraits
Annette Wehrmann | Aernout Mik | Dirk Stewen | »Vor dem Gesetz...« | Marcel DzamaPortrait
Communitas, 2010. © Aernout Mik und carlier | gebauer, Berlin, Foto: Florian Braun
Textauszug
Aernout MikDie Irritation über das Verhältnis von Realität und Fiktion, die bei allen Arbeiten Miks entsteht, verstärkt sich noch durch die Gegenüberstellung der inszenierten Szenarien mit »Raw Footage«, einer Doppelprojektion, die ausschließlich aus über zehn Jahre altem Bildmaterial von Nachrichtenagenturen aus dem Jugoslawien-Krieg besteht, das aber im Fernsehen nie gesendet wurde, weil man es als zu undramatisch und uninteressant empfand. Der »Alltag« des Krieges wirkt keineswegs »realistischer« als Miks inszenierte Szenarien. Aber ist nicht auch das dokumentarische Material von vornherein bewusst für die Medien inszeniert, etwa das verletzte Schwein, das zu einem prägnanten Handlungsträger wird? Und die offenbar echten Leichen, die auf die Ladefläche eines LKW getragen werden, lassen nur deshalb einen Schauer über den Rücken laufen, weil das Bildmaterial als echt deklariert ist. Ansonsten kann der ungeschulte Blick das Ganze von einem Filmset kaum unterscheiden. Innerhalb der Ausstellung ist die Differenzqualität der »Raw Footage« am ehesten an der meist schlechteren Bildqualität auszumachen und im Fehlen des absurden Umkippens der Handlung.
Aber die adressierten Inhalte sind letztlich nicht das eigentliche Thema der Kunst Aernout Miks. Er betont selbst, er mache keine Arbeit über Immigration, über Angst, Gewalt oder nationale Sicherheit. Ihm scheint es eher um eine quasi dekonstruktierende Analyse unserer Wahrnehmung der Welt zu gehen, die er bewusst an und über die Grenze der Überforderung treibt. Oft gelingt es nur mit höchster Konzentration, das entropisch auseinanderdriftende Geschehen zu verfolgen, weil der Rahmen fehlt, um viele der beobachtbaren Einzelmomente einzuordnen. So fühlt man sich angesichts des visuell Dargebotenen bisweilen wie ein ungeübter Hörer neuer Musik, der das ihm kakophonisch erscheinende Klanggeschehen in keine kompositorische Struktur zu überführen vermag. Die visuelle Opulenz, mit der Mik seine illusionistischen Inszenierungen der Realität darbietet, führt also stets auf die Frage der Lesbarkeit, der Möglichkeit einer kritischen Analyse des Wahrgenommenen. Und so steht sein Werk fast paradigmatisch für einen Begriff politischer Kunst, der nicht auf eingängigen Botschaften beruht, sondern dazu ermuntert, den Blick für komplexe Zusammenhänge zu schärfen und diese dann möglicherweise auch zu durchschauen.
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