Artist Ausgabe Nr. 73

Portrait

Textauszug

Berresheim
Trojanische Pferde. Geisterhaft, diese Haarfigur. Oder besser ein Wirbel aus Haarlocken, Haarbüscheln, die, dynamisch ineinander verschlungen, in unerklärliche Bewegung geraten sind. Geisterhaft und unerklärlich gerade auch deswegen, weil dieses Bild - eine großformatige Fotografie - derart plausibel daher kommt: Erfahrungen vor und mit Bildern bestätigt, ihnen »als Bild« jedoch gleichzeitig vehement widerspricht. Wovon hier die Rede ist, ist »Haar S/W (Photo I)«, 2007, eine fotografische Arbeit von Tim Berresheim (Jg. 1975). Das Bild basiert auf einem fraglos präzisen Aufbau und lässt auch in punkto Bildqualität, mit Blick auf Einstellung und Schärfe nichts zu wünschen übrig. Da steht - scharf gezeichnet und klar in den Vordergrund gerückt - eine Figur vor einer recht prosaischen Kulisse, einem ruinösen Stück Mauer, das zusammen mit einem metallenen Hoftor eine stabile Ecke bildet. Die Umgebung, was das Bild darüber hinaus mit einfängt, deutet auf eine halb urbane, halb industrielle Zwischenzone, einstiges Kulturland auf dem Weg zurück zur Brache hin. Wäre nicht dieses bei aller visueller Plausibilität unerklärliche Zentrum, träte nicht diese ganz und gar unmögliche Figur aus allerhand Haarstrukturen aus der Mauerecke heraus, wir könnten uns in den gesicherten Gefilden dokumentarisch sachlicher Kunstfotografie, in stabilen Ikonografien und traditionellen Bildcodes bewegen und zum Beispiel eine Deutungsgeschichte um Schlüsselwörter wie Industrialisierung und Archiv, Dokumentarismus und Rezession entwerfen.

Hans-Jürgen Hafner