vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 111

Portraits

Bethan Huws | Alexandra Bircken | Julian Öffler | Annette Kelm | Katja Aufleger

Interview

Christina Végh

Page

Arne Schmitt

Edition

Arne Schmitt

Portrait

Pizza Pizza Pizza, 2016, C-Print, gerahmt, 4-teilig, jeweils 61,6 x 74,8 cm, Al. 6 + 2 KE, Courtesy König Galerie, Andrew Kreps Gallery, Herald St. und die Künstlerin

Textauszug

Annette Kelm
Schon hier konstatieren wir eine Nähe von Annette Kelm zu Marcel Duchamp, dem Urvater der konzeptuellen Kunst, ohne sie damit gewaltsam zur konzeptuellen Künstlerin machen zu wollen. Obwohl ihre Werke, wie wir noch zeigen werden, durchaus analytisch gedacht und klug konzipiert sind, sind sie dabei doch zugleich auch sinnlich und schön. Von der Art, wie der französische Philosoph René Descartes Schönheit verstand: die Welt und die Dinge »clare et distincte« erfassend und »more geometrico« darlegend. Nein, wir denken in diesem Zusammenhang eher an das bedeutungsvolle Schweigen Duchamps zur Kunst, das Joseph Beuys seinerzeit für »überbewertet« hielt. Kein Wunder, weihte er selbst doch, auch wenn er bereits total erschöpft war, überaus bereitwillig jeden in die Geheimnisse von Filz und Fett ein, der danach verlangte. Die Nähe zu Duchamp scheint noch offensichtlicher, wenn Kelm wenig später im Gespräch mit Graw hinsichtlich ihrer Themen und Motive Folgendes zu Protokoll gibt: »Ich versuche, Gegenstände, Stoffe oder auch Personen zu finden, die eine Art Bedeutungsoffenheit zulassen, welche ich dann für meine Zwecke nutzen kann. Ich suche nach Dingen, die so weitgehend wie möglich entleert sind. Zwar ist Symbolik oft nicht zu vermeiden – Symbole sind ja überall vorhanden -, aber ich versuche, die Symbole in den Hintergrund zu drängen, sodass man den fotografierten Gegenstand nicht nur als Symbol wahrnimmt, sondern als genau den Gegenstand, von dem zugleich auch abstrahiert werden kann.« Die Vorstellung der Entleerung ihrer Gegenstände, von der Kelm hier spricht, ähnelt im Prinzip jener Vorstellung der Indifferenz, von der sich Duchamp bei der Wahl seiner »Readymades« leiten ließ. In einem Gespräch mit Alfred H. Barr Junior, dem Direktor des Museum of Modern Art, wies er 1946 darauf hin, dass er darauf Wert legte, von ihnen weder emotional noch intellektuell »affiziert« zu werden. Was ihn indes nicht daran hinderte, ihnen in den von ihm so genannten »Readymades assistés« durch Interventionen vielfältige Bedeutungsfacetten abzugewinnen. Was in etwa dem von Kelm angesprochenen Abstraktionsprozess gleichkommt, denen sie ihre Bilder unterwirft.

In der hannoverschen Kestner Gesellschaft zeigt Annette Kelm gegenwärtig unter dem Titel »Leaves« eine Auswahl neuer, aber auch wichtiger, ikonisch gewordener, älterer Arbeiten. Bereits bei einem schnellen Rundgang fällt auf, dass Kelm eher kleinere bis mittlere Bildformate favorisiert. Sie machen ihre analogen und selbst entwickelten Bilder für den Betrachter zu Gegenüber, die in aktiver Auseinandersetzung erforscht und erkannt sein wollen. Von Großformaten der Becher Schule, die vielfach auf visuelle Überwältigung des Betrachters zielen, ist sie weit entfernt. In diesem Zusammenhang spielen Bildserien, die stets ein vergleichendes Sehen forcieren, keine kleine Rolle in ihrem Werk. Bereits bei Eintritt in die Ausstellung fällt der Blick auf »Pizza, Pizza, Pizza« (2016). Der Besucher sieht vier Mal ein exakt gleiches Bild: einen Pizzakarton vor einer gelben Wand, angeordnet wie eine Box von Donald Judd. Davor und daran geheftet, ein Stück Baumrinde, deren unregelmäßiger Schatten ihr Bild dupliziert. Die Assoziationen, die sich an das groteske Ensemble heften, sind vielfältig. Man denkt an die Module der Minimal Art wie an die Reihungen der Pop Art, an Warhols »Fünfundzwanzig farbige Marilyns« oder seinen »Dreifachen Elvis«, und an die Gestik des abstrakten Expressionismus, die diese metonymische Allianz aus Kultur und Natur sekundieren. Daneben vier Mal ein beinahe identisches Porträt von »Lucie« (2016). Eine junge Frau steht hinter einer farbigen Jalousie, die ihre rechte Gesichtshälfte zum Teil verbirgt. Ihr rechtes Auge bleibt dabei frei und schaut zusammen mit dem linken Auge konzentriert und prüfend auf ihre Betrachter. Während diese die Bildreihe abgehen, schiebt sich die Jalousie immer weiter in das Gesicht von Lucie vor, bis sie ihre Nase fast vollständig bedeckt. Ihr blaues Augenpaar bleibt indes frei und hört in keiner Sekunde auf, uns einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Kelms kinematografische Bildsequenz inszeniert ein ebenso diskretes wie raffiniertes Spiel von Verhüllung und Enthüllung. In dem Maße, in dem die Jalousie Lucies Gesicht bedeckt, werden ihre Augen immer stärker hervorgehoben. Und da in ihnen angeblich die Seele des Menschen wohnt, stellt sich in diesen Bildern einmal mehr die alte Identitätsfrage neu: Wer sind wir, wenn wir Ich sagen?

Weitere fabelhafte Serien sind in der Kestner Gesellschaft zu besichtigen wie die »Money Trees« aus 2015 und 2016, die zum einen die öde bürgerliche Ermahnung ad absurdum führen, das Geld nicht auf Bäumen wachse, zum anderen an die schöne Geschichte erinnern, wie Mitglieder der Factory Andy Warhol, dem nichts mehr einfiel, was er noch malen konnte, aus seiner Schaffenskrise erlösten, indem sie ihm rieten, zu malen, was er am Meisten liebe: Dollarscheine. Neben den Serien gibt es hinreißende Einzelaufnahmen zu sehen wie »Dove« (2013), die impressionistische Studie einer sich in einem frühlingsgrünen Baum versteckenden Taube. Oder »Pepper/Pacman« (2016), eine Maler-Palette, deren Form an die Figur aus einem frühen Computerspiel erinnert. In Gemeinschaft mit Pfefferkörnern schafft sie ein zartes, farbharmonisches Bild von exquisiter Schönheit. Nicht anders »Welcome« (2016) mit seinen roten Blüten und grünen Blättern, die vor einem nachtschwarzen Hintergrund aus zerknülltem graublauem Papier wachsen. Die Liebe zur Geometrie wie »Raddish« (2016) ist ein zugleich surreales und spielerisches Ensemble, das Dada, Duchamp und Arcimboldo zusammenbringt. Freundlich ironische Züge tragen auch Kelms Porträts von Judith Hopf und Henrik Olesen. Während sich die Bildserien zu syntagmatischen Bedeutungsketten zusammenschließen, öffnen sich hinter den Einzelaufnahmen paradigmatische Bedeutungsräume. Das ist vor allem bei der Aufnahme »After Man Ray« (2005) der Fall. Stärker als an Man Ray orientiert sich das Bild des androgynen jungen Mannes in der Pose eines weiblichen Modells allerdings an einem Akt von Maurice Tabard aus dem Jahr 1929. An Man Ray lässt noch am Ehesten der Kelms Abzug aufgemalte schwarze Schnurrbart denken. Ähnlich wie sie heute verfuhr auch früher schon der amerikanische Fotograf, als er dem berühmten, von ihm gefertigten Porträt seines Pariser Modells Kiki de Montparnasse einen F-Schlüssel aufmalte und es »Le Violon d´Ingres« (1924) nannte.

Michael Stoeber